Papilo krabbelte unter dem Rosenbusch hervor und starrte sehnsüchtig in den Himmel.
»Was ist los?« Die kleine Schnecke hatte neben ihm angehalten und streckte ihm neugierig ihre Fühler entgegen. Ihre Schleimspur glitzerte in der Sonne. Weit war sie heute noch nicht gekommen. Papilo blickte traurig auf seinen bunten Flügel und zeigte der Schnecke den Riss, der ihn fast einmal in der Mitte teilte. »So kann ich nicht fliegen!«, seufzte er. »Und hier auf der Erde warten, bis er verheilt ist, ist für mich zartes Geschöpf viel zu gefährlich.« Papilo ließ beide Flügel hängen.
»Ich weiß was! Du setzt dich auf mein Haus und wir laufen zu dem Stein dort.« Die kleine Schnecke deutete mit ihren Fühlern in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Da hinten ist ein Lavendel, da treffe ich sonst immer ganz viele deiner Artgenossen. Die können bestimmt helfen.« Papilo blickte auf. »Oh! Aber dann wärst du den ganzen Weg hierher doch umsonst gelaufen.« Die Schnecke schüttelte den Kopf. »Wie kann der Weg umsonst gewesen sein, wenn ich jetzt hier bin, um dir zu helfen.«
Papilo krabbelte auf das braune Haus der Schnecke. Das fühlte sich großartig an – als wäre er der König der Welt. In Zeitlupe huschte die Welt an ihm vorbei.
»Wie hältst du es nur aus, so langsam vorwärtszukommen, kleine Schnecke? Ich schaue die ganze Zeit auf die herrlichen lila Blüten, die so gut duften und habe das Gefühl, sie sind unerreichbar von mir entfernt und wir kommen ihnen keinen Schritt näher.« »Das ist das Problem, Papilo! Du fokussierst dich auf das Ziel! Ich konzentriere mich auf den Weg! Sieh hier! Ein kleiner Käfer! Und hier ein wunderschönes Kleeblatt. Und hier ein Blütenblatt, das der Wind weggeweht hat.«
Papilo richtete seine Aufmerksamkeit auf all die kleinen Dinge, die ihnen unterwegs begegneten. Der Duft nach Lavendel wurde immer stärker. Papilo liebte diesen herben und zugleich süßlichen Geruch. Fast glaubte er, das lautlose Flügelschlagen eines Schmetterlings vernommen zu haben. Ehe er sich versah, waren sie am Stein angekommen und er krabbelte dankbar darauf.
»Papilo, was ist denn los? Wieso reitest du auf einer Schnecke hierher?« Die Sonne spiegelte sich in den ozeanblauen Flügeln seiner Schwester und ließ sie schimmern wie das Meer. »Die kleine Schnecke hat mich gerettet. Ich hab mir den Flügel verletzt und kann nicht mehr fliegen.« Zum Beweis hob er seinen gerissenen Flügel leicht an. »Ohje! Warte hier! Wir bringen dich zu Mama!« Seine Schwester flog davon und kurz darauf spürte er lauter kleine Wirbelwinde um sich herum. Ganz viele Schmetterlinge waren gekommen und flatterten aufgeregt neben ihm her.
»So Papilo, hör mir genau zu! Du musst jetzt noch einmal stark sein und so hoch flattern, wie du mit einem Flügel kannst! Dann werden wir dich tragen!« »Ok, aber warte kurz!« Papilo drehte sich zur kleinen Schnecke. »Ich danke dir vielmals, wenn du jemals etwas brauchst, lass es mich wissen.« »Gern geschehen!«, erwiderte die kleine Schnecke und machte sich auf den Weg zurück zur Rosenhecke.
Papilo gab seiner Schwester ein Zeichen, sprang in die Luft, bewegte seine Flügel so schnell er konnte, bis die Schmerzen zu stark wurden. Da bemerkte er plötzlich etwas Weiches, Zartes unter seinen Beinchen. Die Schmetterlinge hatten eine kleine Wolke gebildet und trugen ihn geradewegs durch die Luft.
»Hey Leute, ich weiß was! Hört mal her«, flüsterte er ihnen leise etwas zu. Kurz darauf formierten sich alle zu einem großen Schmetterling, der bunt und fröhlich durch die Lüfte segelte. Die kleine Schnecke beobachtete gebannt das Schauspiel, als sich die Form erneut veränderte – erst zu einem Herz, dann zu einer Schnecke. Gerührt sah sie den Schmetterlingen hinterher. Jetzt hatte sie es heute doch tatsächlich ganz hoch hinaus geschafft – bis in den Himmel!
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